. .
Presseberichte

Frauenforum würdigte Frauengeschichte

Vortrag von Historikerin Ilona Scheidle: „Das Männerrecht vermenschlichen“

Am 27. März 1849 wurde die erste demokratisch legitimierte Verfassung für Deutschland verabschiedet. Die Deutsche Nationalversammlung hatte in der Frankfurter Paulskirche dafür ein Jahr lang debattiert, um den Idealen der französischen Revolution eine Form zu geben. Bis heute sind ihre vereinbarten Grundrechte wegweisend – sie waren es für die Weimarer Verfassung und sind es für das geltende Grundgesetz.

Genau zum "160. Jahrestag der Demokratie" hat das Frauenforum und die Bürgermeisterin und Gleichstellungsbeauftragte Ursula Hänsch ins Rathaus-Foyer Wiesloch eingeladen. Zum Abschluss der Wanderausstellung "Füllhorn, Waage, Schwert – Justitia ist eine Frau" stellte ein Vortrag der Historikerin Ilona Scheidle die Geschichte von Frauenbewegungen als Rechtsbewegung am Beispiel Camilla Jellineks vor. Mit dem Lebensportrait der Heidelberger Frauenrechtskämpferin veranschaulichte sie die regionalen Leistungen im Demokratisierungsprozess sowie den Beitrag und das Spezifikum der ausgestellten Menschheitsgeschichte.

Ilona Scheidle, M.A. studierte in Heidelberg Mittlere und Neuere Geschichte, Kunstgeschichte und evangelische Theologie. Seit 1994 veranstaltet sie Stadtrundgänge zu aktuellen sowie frauen- und geschlechterhistorischen Themen. Die Mitarbeiterin von "Miss Marples Schwestern - Netzwerk zur Frauengeschichte vor Ort" eröffnet dabei neue Perspektiven auf "vertraute Orte". Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichte die Autorin unter anderem in: "Frauengestalten“ (1995) und "800 Jahre Frauengeschichte in Heidelberg" (1996). Sie promoviert an der Universität Heidelberg zur Biografie der Großherzogin Luise von Baden (1838-1923).

Der Vortrag titelte mit einem Zitat Camilla Jellineks: „Das Männerrecht vermenschlichen“. Er stellte den Lebensweg von „Camilla Rechtsschutz“ – wie sie von FreundInnen genannt wurde – nach dem 2006 veröffentlichten Buch: "Heidelbergerinnen, die Geschichte schrieben – Frauenporträts aus fünf Jahrhunderten" vor.

Camilla Jellinek wurde 1860 in Wien geboren und entstammte einer alteingesessenen jüdischen Familie. Sie besuchte die höhere Bildungsschule des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins, die erste anerkannte Mädchenmittelschule Wiens. 1883 heiratete sie den Juristen Georg Jellinek, Sohn eines jüdischen Gelehrten. Sie bekamen 6 Kinder. Im Jahr 1890 kam Camilla mit ihrer Familie aufgrund einer Berufung ihres Mannes nach Heidelberg, in das liberale "Weltdorf", so ihre Bezeichnung für die Universitätsstadt mit "Dem lebendigen Geist".

Durch das Engagement von Marianne Weber, einer der führenden bürgerlichen Frauenrechtlerinnen, trat Camilla Jellinek in den Bund Deutscher Frauenvereine (BDF), dem Dachverband der gemäßigt bürgerlich demokratisch motivierten Frauenbewegungen, ein. Ihr Interesse galt den juristischen Fragen, etwa der Abschaffung des § 218, Rechte für unehelich geborene Kinder und der Staatsbürgerschaft für Frauen. Sie wollte das „Männerrecht vermenschlichen“, indem sie den juristischen Blick auf die Belange von Frauen und Kinder richtete. So trat Camilla für das Selbstbestimmungsrecht der Frau ein und stellte die radikale Forderung nach der ersatzlosen Streichung des §218.Für sie bestand kein Zweifel: „Wenn die Männer die Kinder zu gebären hätten – ein männlicher § 218 wäre nie geschafften worden!“

Vierzigjährig gründete und leitete sie die Heidelberger Rechtsschutzstelle für Frauen und Mädchen. Unkundige und vermögenslose Frauen sollten die Möglichkeit einer sachkundigen Rechtsberatung in Konfliktfällen erhalten wie Lohn-, Dienst- und Mietfragen aber auch in Fällen von Ehekonflikten und Gewalt. Sie argumentierte mit weiblichen Schamgefühlen gegenüber einem männlichen Berater, um das Arbeitsprinzip einer exklusiven Beratungsstelle "von Frauen für Frauen" zu erreichen. Mit Erfolg.

Ein Großteil der Rat suchenden Frauen waren damals Kellnerinnen. Deren Beruf galt als anrüchig und wurde in die Nähe der Prostitution gerückt. Dies war für Jellinek Anlass, sich intensiv mit diesem Thema zu befassen. In Artikeln machte sie die Öffentlichkeit auf die schlechten Arbeitsbedingungen und die Ausbeutung der Kellnerinnen aufmerksam. Eine von ihr verfasste Petition, die das Berufsverbot zum Schutze von Frauen vor diesem "Kellnerinnenelend" beabsichtigte, wurde mit 100.000 Unterschriften Unterstützung beim Reichstag, beim Bundesrat und beim Reichsjustizamt eingereicht. Auf lokaler Ebene gründete sie 1907 als sozialfürsorgerische Maßnahme mit Hilfe einer Sammlung und eines städtischen Zuschusses in Heidelberg ein Kellnerinnenheim.

1908 wurde Camilla Jellinek Vorsitzende der Rechtsschutzkommission des BDF, dessen Mitglied des erweiterten Vorstandes sie bereits gewesen war. Sie war davon überzeugt, dass das Frauenstimmrecht und die formale Gleichberechtigung, die nach 1918 in der Weimarer Verfassung festgeschrieben war, keine Garantie dafür sei, dass die Gleichberechtigung tatsächlich umgesetzt werde. Sie forderte, sich uneingeschränkt für Frauenrechte zu engagieren.

1930 wurde ihre Arbeit mit der höchsten Würde der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg ausgezeichnet - sie erhielt den Ehrendoktor beider Rechte. Sie starb 1940.
Sie war Juristin „durch Anstand, durch Selbstbestimmung und durch praktische Ausübung“ wie es der Heidelberger Staatsphilosoph Gustav Radbruch anlässlich ihres hundertsten Geburtstags festhielt.

Nach der Präsentation folgte eine rege Runde mit Diskussionen. Der inhaltliche Bogen umfasste den Dank an Dr. Elisabeth Selbert (SPD) und den drei weiteren Müttern des Grundgesetzes, die dafür sorgten, dass der Gleichberechtigungsartikel Art. 3, Abs 2 ohne Einschränkung ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Umsetzungsprobleme der verbürgten Gleichberechtigung wurden von anwesenden Frauen im konkreten Berufs- und Lebensalltag benannt, so dass die aktuelle Gleichstellungspolitik noch immer mit geschlechtlich bedingten Benachteiligungen von Frauen bestimmt wird, um Frauen die Teilhabe am Staatsgeschehen zu ermöglichen. Als geschlechterdemokratisch asymmetrisch wurde auch die Teilhabe am kulturellen Gedächtnis, an der Symbolischen Ordnung unserer Gesellschaft, benannte. Geschichte formiert durch gesellschaftlich tradierten Konsens das kulturelle Gedächtnis eines Staatswesens, das bis dato vornehmlich mit Ehrenbürgern, (Kriegs)Helden, Kaisern und Kanzlern bevölkert wird und die Geschichte als eine Sozial-Geschichte von Frauen „vergisst“. Sollte eine Demokratie hingegen nicht auch ein Menschenrecht auf Frauengeschichte gewährleisten? Durch Geschichtsarbeit kann sichtbar und bewusst werden, dass historisch erklärbare Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern erzeugt und daher auch wandelbar sind: Am 27. März 09 konnten vermögende Männer 160 Jahre Demokratie feiern. Am 19. Januar 09 konnten alle Frauen und auch arme Männer 90 Jahre ihr demokratisches Wahlrecht feiern. Dieses Beispiel zeigt, Jellineks Aktualität und Brisanz: Das Männerrecht vermenschlichen. Das Einbeziehen von Frauen und Kindern, ist ein Gewinn für die Menschheit für die Demokratie ... Gilt es nun, Platz zu schaffen, diesen Gewinn sichtbar und repräsentierbar zu machen. Wann gibt es die erste Ehrenbürgerin in Wiesloch?